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„Die Hemmschwelle ist beim Arzt einfach größer“

Online-Konkurrenz auf der einen Seite, Ärztemangel auf der anderen: Apotheken haben die Chance, mit niederschwelligen Gesundheitsservices Nischen zu besetzen und Kunden zu binden. Nur Diagnosen stellen dürfen sie weiterhin nicht.

Diabetes ist eine tückische Erkrankung: Sie verursacht zunächst keine Beschwerden, führt aber häufig zu Schäden an der Netzhaut und in der Folge zur Erblindung. Um das zu verhindern, ist die Früherkennung der sogenannten diabetischen Retinopathie besonders wichtig. Bislang sind nur Augenärzte in der Lage, diese Diagnose zu stellen. An der Universitätsklinik für Augenheilkunde der MedUni Wien ist aber ein Durchbruch gelungen: Ein Team um Klinikleiterin Univ.-Prof. Dr. Ursula Schmidt-Erfurth hat ein automatisches Diabetes-Screening entwickelt, das ohne Hilfe eines Arztes Diabetes am Auge feststellen kann. Das geschieht mittels hoch auflösender Kameras und künstlicher Intelligenz, dauert nur wenige Minuten und kostet nicht viel. 

"Das digitale Screening ist dermaßen einfach einsetzbar, dass es nicht nur bei Augenärzten, sondern auch in Apotheken einer breiten Masse an Diabetikern niederschwellig zugänglich sein kann." 
Dr. Ursula Schmidt-Erfurth

Das digitale Diabetes-Screening ist nahe Zukunftsmusik, Österreichs Apotheker haben aber auch bisher schon viele Ideen geboren, um ihren Kunden mit niederschwelliger Gesundheitsvorsorge und Beratung das Leben zu erleichtern. Gleichzeitig stärken sie damit auch die Position ihrer eigenen Apotheken, die zunehmend unter Druck des konkurrenzierenden Onlinehandels geraten. Die Themenpalette der Zusatzangebote deckt ein äußerst breites Spektrum ab – von Hilfestellung bei Migräne über Schmerztherapie bis hin zu Impfaktionen. Manche Apotheken haben sich über die Jahre so intensiv in ein Thema vertieft, dass sie zu äußerst beliebten Anlaufstellen geworden sind, bekannt dafür, mit Spezialwissen und besonderer Betreuung zu punkten. 

Anlaufstelle für HIV-Patienten

Ein Beispiel für so einen Spezialisten ist die Marien Apotheke in Wien. Schon vor 20 Jahren setzte sich die Inhaberin, Mag. pharm. Karin Simonitsch, intensiv mit den Bedürfnissen von HIV-Patienten auseinander. „Das war zu einer Zeit, als sogar noch das medizinische Personal große Berührungsängste zeigte und allgemein ein Informationsdefizit vorherrschte. Da hat es sich schnell herumgesprochen, dass man bei uns als HIV-Patient offen und ohne Vorurteile betreut wird“, sagt Simonitsch. Heute bietet ihre Apotheke den HIV-Selbsttest an.

„Der Beratungsaspekt ist der wichtigste Teil beim Selbsttest, es liegt in unserer Pflicht, die Betroffenen bestmöglich aufzuklären“, so Simonitsch. Die Kunden seien zwar relativ gut vorinformiert, auch dank der medialen Berichterstattung, Details wie beispielsweise das dreimonatige diagnostische Fenster müssten aber besonders eindringlich erklärt werden. Für solche intimen Beratungsgespräche hat die Marien Apotheke ein kleines „privates Eck“ mit Sitzgelegenheiten. Generell legt Simonitsch sehr großen Wert auf die Qualität von Beratungsgesprächen. Immer wieder animiert sie ihre Kunden dazu, Fragen zu stellen, hält die Niederschwelligkeit der Apotheke in diesem Zusammenhang für einen großen Vorteil: „Die Hemmschwelle ist beim Arzt einfach größer.“ Geht die Problemlage allerdings über die pharmazeutische Expertise hinaus, verweist sie ihre Kunden selbstverständlich an einen Arzt.

Die Grenzen zwischen Medizin und Pharmazie sind fließend

Die Wirkungsbereiche von Ärzten und Apotheken überschneiden sich vielfach. Die oft fließende Grenze zwischen pharmazeutischen und medizinischen Kompetenzen macht das Thema niederschwellige Gesundheitsvorsorge so heikel. Die Ärztekammer etwa pocht darauf, eine strikte Trennung zwischen pharmazeutischer und ärztlicher Beratung zu ziehen. 

„Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern funktioniert aktuell gut. Jedoch sollte man die Kompetenzen von Apothekern und Ärzten nicht verwässern, auch nicht, wenn es angeblich den Ärzten durch Entlastung helfen soll. So lässt sich der Ärztemangel sicher nicht beheben“

Dr. Thomas Szekeres, PhD, Präsident der Österreichischen Ärztekammer.

Seiner Meinung nach sollten Apotheker das tun, wofür sie ausgebildet seien, nämlich beraten, Patienten aufklären und nicht verschreibungspflichtige Medikamente verkaufen. Forderungen von pharmazeutischer Seite, dass Ärzte Diagnosen stellen, aber nicht die Medikamente verschreiben sollen, erteilt Szekeres eine klare Abfuhr: „Die Ausbildung zum Arzt ist eine sehr komplexe und lange dauernde Angelegenheit – und das aus gutem Grund. Es liegt im Interesse und der Kompetenz jedes medikamentenverschreibenden Arztes, auf Neben- und Wechselwirkungen zu achten.“

Haut-Screening-App

Doch was ist eine Diagnose? Mag. pharm. Dr. Wilhelm Schlagintweit von der Apotheke zum Löwen von Aspern in Wien kooperiert beispielsweise mit dem Unternehmen Scarletred, das eine Smarthpone-App zur Analyse von Hautkrankheiten entwickelt hat. Ähnlich wie beim digitalen Screening der diabetischen Retinopathie profitiert man dabei von den enormen Fortschritten der elektronischen Bildverarbeitung. 

„Die App liefert keine Diagnose, sondern unterstützt als Hilfsmittel bei der Bewertung von Auffälligkeiten. Die Haut ist etwas Subjektives, da sieht jeder Mensch etwas anderes. Die künstliche Intelligenz aber, die mit großen Mengen an Bilddaten gefüttert ist, kann standardisiert und objektiv bewerten“, sagt Schlagintweit. Seinen Kunden will er das Service anbieten, um Kosmetika gezielter und wirkungsvoller empfehlen zu können. 

Dazu wird jeder Kunde zunächst mit einem standardisierten Sticker fotografiert. Die Software vergleicht die Aufnahmen dann mit Bildern von Hautunreinheiten oder -krankheiten aus einer Referenzdatenbank und sucht nach Ähnlichkeiten. „In der Apotheke arbeiten wir daran, die Wirksamkeit von Kosmetika an Hand des Bilddatenmaterials zu verifizieren und den Erfolg zu dokumentieren oder die Anwendung zu adaptieren. Je mehr Daten wir von Kunden zur Verfügung gestellt bekommen, desto lernfähiger wird das System“, sagt Schlagintweit. Mit der Technologie ist es auch möglich, den Verlauf einer Hauterkrankung genau zu verfolgen, indem in kurzen Zeitabständen immer dieselbe Hautstelle fotografiert wird. So lässt sich nachprüfen, ob das verwendete Hautpflegemittel die gewünschte Wirkung zeigt, quasi evidenzbasiertes Service für den Kunden.

Nicht „Strom aus der Steckdose“ sein

Solche Innovationen zu nutzen empfiehlt auch Mag. pharm. Dr.  Andreas Windischbauer. Der Vorstandsvorsitzende der Herba Chemosan warnt die Apotheker davor, als Selbstverständlichkeit in der Bevölkerung angesehen zu werden. „Die Apotheken haben aus meiner Sicht das Problem, dass sie so wie der Strom aus der Steckdose sind. Das heißt: Man erwartet, dass alles funktioniert und man alles sofort bekommt. Man macht sich gar keine Gedanken darüber, weil eh immer alles da ist.“ Es bedürfe einer besseren Sichtbarkeit der Leistungen. Er rät, „mehr für die Gesundheitsvorsorge der Leute zu tun und stärker in Richtung Prävention zu gehen“. Den Apothekern stehe ihre eigene Seriosität im Weg, wenn es um das Eigenmarketing geht. „Apotheken werden unter ihrem Wert geschlagen, weil sie nicht so marktschreierisch wie andere Branchen auftreten können.“ Mit Webauftritt oder Marketingdienstleistungen will die Herba die Apotheken unterstützen, so Windischbauer.

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© Fotos: Reinhard Lang, Text: Josef Puschitz